„Es braucht Raum für echte, menschliche Begegnung – gerade in ihrer Begrenztheit“: Prof. Antje Gumz im Interview zu ihrer neuen deutschlandweiten Studie zu Spannungen und Krisen in der Psychotherapie

Spannungen, Konflikte oder gar Krisen gehören zur Realität zwischenmenschlicher Beziehungen – auch in der Psychotherapie. Doch wie kann man im therapeutischen Rahmen professionell mit ihnen umgehen? Wie lassen sie sich frühzeitig erkennen – und wie kann man sie zur Vertiefung und Verbesserung des therapeutischen Prozesses nutzen? Ein groß angelegtes, deutschlandweites Forschungsprojekt unter der Leitung von Prof. Dr. Antje Gumz und finanziert von der DFG widmet sich genau diesen Fragen. Etwa 150 Psychotherapeut*innen in Ausbildung, 300 Patient*innen und 40 Supervisorinnen aus insgesamt 17 Ausbildungsinstituten nehmen an der Studie teil. Im Zentrum steht das Modifizierte Allianz‑Fokussierte Training mit Doppeln (MAFT-D) – ein innovatives Trainingsprogramm, das Psychotherapeut*innen schulen soll, spannungsreiche Beziehungssituationen frühzeitig zu erkennen und konstruktiv zu bearbeiten. Im Interview gibt Prof. Gumz Einblick in die Hintergründe und Ziele des Forschungsprojekts.

Prof. Dr. Antje Gumz
Prof. Dr. Antje Gumz

PHB: Frau Prof. Gumz, Sie forschen seit mehr als 20 Jahren zum Thema Spannungen und Krisen im psychotherapeutischen Prozess – wie sind Sie eigentlich zu diesem Thema gekommen?

Prof. Antje Gumz:  Mich hat schon immer fasziniert, wie frühe Beziehungserfahrungen unser aktuelles Verhalten prägen – oft wiederholen sich ja schwierige Muster. In der Psychotherapie liegt darin eine große Chance: Wenn es gelingt, solche Beziehungserfahrungen in der Psychotherapie zu reproduzieren, sie zu verstehen und zu bearbeiten, können tiefgreifende Veränderungen entstehen. Aus dieser Faszination heraus habe ich meine primäre Therapieausbildung in den beiden psychodynamischen Verfahren absolviert.

Am Uniklinikum Leipzig haben wir damals – vor inzwischen mehr als 20 Jahren – bereits systematisch Therapiesitzungen evaluiert und erforscht, was sich in therapeutischen Beziehungen zeigt. Wir haben Verwicklungen in Therapiebeziehungen in den Blick genommen und haben Therapiebeziehungen auch mit Fragebogenerhebungen evaluiert. Das war sehr innovativ für die damalige Zeit!

Später habe ich eine Ausbildung in Systemischer Therapie angeschlossen, wo die Vorstellung ja theoretisch sehr verankert ist, dass nichtlineare Dynamiken in Psychotherapien auftreten können. Das bedeutet, dass Veränderung im psychotherapeutischen Prozess nicht gleichmäßig, sondern sprunghaft und unvorhersehbar erfolgen kann. In meiner Forschung habe ich ein Modell entwickelt, das die Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme auf die therapeutische Beziehung überträgt. Es zeigt, dass es nicht möglich ist sich Verwicklungen in der therapeutischen Beziehung zu entziehen und dass Spannungen und Krisen unvermeidlich sind. Es zeigt aber auch, dass sie zugleich eine Chance bieten, sie beispielhaft für außertherapeutische Beziehungsmuster zu verstehen und aufzulösen.

 

PHB: Was genau ist das Modifizierte AllianzFokussierte Training mit Doppeln (MAFT-D) und was macht es aus Ihrer Sicht besonders geeignet, um einen professionellen Umgang mit Spannungen und Krisen zu erlernen und zu trainieren?

Prof. Antje Gumz: Das MAFT-D geht zurück auf ein amerikanisches Modell, das Allianzfokussierte Training, das wir für die deutsche Ausbildung angepasst haben. Mit dem Verfahren üben Therapeut*innen eigene Affekte im Zusammenhang mit Spannungen und Krisen sensibler wahrzunehmen, zu regulieren und in einer hilfreichen Art zu kommunizieren. Sie erspüren also die Muster der Beziehungsgestaltung und üben, mit hilfreichen Worten zu beschreiben, was sie erspüren. Zentral ist dabei die Arbeit mit Videoaufzeichnungen und Rollenspielen und es werden auch Achtsamkeitsübungen durchgeführt. Mithilfe von Rollenspielen, Videoaufzeichnungen und der Technik des ‚Doppelns‘ wird weniger theoretisiert und stärker erlebt – so wird der Umgang mit schwierigen Situationen greifbar und trainierbar.

 

PHB: Was bedeutet der Begriff Doppeln in dem Zusammenhang?

Prof. Antje Gumz: Therapeut*innen neigen dazu zu rationalisieren oder zu intellektualisieren, wenn sie über ihre Patienten sprechen. Das kann ich gut nachvollziehen, aber als Supervisorin habe ich mich oft gefragt: wie bekomme ich einen Bezug zu dem, was gefühlt wird. Ich habe deswegen begonnen, Therapeuten zu bitten, das, was sie fühlen, nur noch über die Technik des Doppelns zur Verfügung zu stellen. Beim Doppeln formuliert eine zweite Person – zum Beispiel ein*e Supervisor*in – das, was unausgesprochen im Raum steht. Sie gibt den unausgesprochenen Gefühlen oder Gedanken eine Stimme, so als spräche sie stellvertretend für Patient*in oder Therapeut*in. Das macht Spannungen unmittelbar erfahrbar und erleichtert, neue Sichtweisen einzunehmen. Diese Technik stammt ursprünglich aus dem Psychodrama und hat sich im Training als sehr wirksam erwiesen, weil sie den emotionalen Kern eines Problems direkt sichtbar macht.

 

PHB: In welcher Form und mit welchem Ziel erforschen Sie das Thema im Rahmen Ihres neuen Forschungsprojekts?

Prof. Antje Gumz: Wir prüfen in unserer großen, deutschlandweiten Studie, ob unser Trainingsprogramm die Ausbildung von Psychotherapeut*innen verbessert. Wir führen das Projekt in Kooperation mit 17 Ausbildungsinstituten deutschlandweit durch – insgesamt sind 150 Psychotherapeut*innen in Ausbildung, 300 Patient*innen und 40 Supervisor*innen beteiligt. Es handelt sich um eine methodisch hoch komplexe aufwändige Studie. Ich habe ein wirklich tolles Forschungsteam, auf das ich sehr stolz bin.

Mit unseren Forschungen messen wir, ob sich Symptome und Beziehungsfähigkeit von Patient*innen verbessern, deren Therapeut*innen das Modifizierte Allianz‑Fokussierte Training erhalten, und ob es zu weniger Therapieabbrüchen kommt. Außerdem messen wir, ob die Therapeut*innen selbst sich verändern und ihre Kompetenzen im Umgang mit Krisen oder Konflikten zunehmen.

 

PHB: Was erhoffen Sie sich von der Studie – wie könnten Patient*innen und Therapeut*innen davon profitieren?

Prof. Antje Gumz: Das Projekt befasst sich mit einem für den Therapiealltag sehr relevanten Thema. Wir wünschen uns, dass das Training langfristig zu einer besseren Ausbildung und zu erfolgreicheren Therapien führt. Erste Rückmeldungen von Supervisor*innen und Therapeut*innen sind sehr positiv – viele erleben die Arbeit als bereichernd. Wichtig ist uns auch, ein Bewusstsein für die eigene Fehlbarkeit zu schaffen und eine offene, tolerante Haltung im Umgang mit Unsicherheiten und Fehlern zu fördern.

 

PHB: Was wünschen Sie sich persönlich, wenn Sie an die Zukunft der psychotherapeutischen Ausbildungen denken?

Prof. Antje Gumz: Ich wünsche mir, dass das, was in der therapeutischen Beziehung auf der nonverbalen Ebene passiert – also das, was subtil mitschwingt zwischen Therapeut*innen und Patient*innen – einen zentralen Platz bekommt. Aus meiner Sicht liegt hier ein großes diagnostisches und therapeutisches Potential. Dazu gehört auch das, was wir mit dem Modifizierten Allianz-Fokussierten Training schulen möchten: eine Haltung, bei der emotionale Verbundenheit im Vordergrund steht und bei der sich Therapeut*innen nach dieser emotionalen Verbundenheit suchend ihren Patient*innen im Hier und Jetzt authentisch und neugierig zuwenden.

Ich wünsche mir auch, dass die Anteile der Therapeuten an entstehenden Spannungen und Krisen in der Therapiebeziehung einen größeren Raum bekommen. Nicht nur in der Selbsterfahrung, sondern auch in Seminaren und der Supervision. Aus meiner Erfahrung ist es äußerst nützlich, immer mitzufragen: Was hat eine Spannung mit Vulnerabilitäten einer Psychotherapeut*in zu tun – also mit ihren eigenen wunden Punkten, mit früheren Beziehungserfahrungen oder bislang unerfüllten Bedürfnissen? Das hilft Therapeut*innen, mit eigenen Schwierigkeiten oder Fehlern und Begrenzungen offener umzugehen, weil sie unzweifelhaft wissen, dass wir alle davon betroffen sind.

In dem Kontext wäre auch mein Wunsch, dass stärker vermittelt wird, dass wir immer subjektiv und aufgrund unserer eigenen Beziehungserfahrungen auf Patient*innen reagieren. Weitergedacht bedeutet das, dass es keine wirklich objektive Wahrheit darüber gibt, was Patient*innen in uns auslösen und wie wir damit umgehen sollten. Nur wenn wir als Lehrende und Supervisor*innen das im Hinterkopf behalten, kann es Psychotherapeut*innen in Ausbildung gelingen, Vertrauen in die eigenen Gefühle und Affekte zu gewinnen und stärker mit ihnen in der therapeutischen Beziehung zu arbeiten.

Und ein letzter Wunsch: wir leben in Zeiten der Ökonomisierung, der Effizienz und scheinbar unbegrenzter technischer Möglichkeiten. Gerade deshalb braucht es Räume für echte menschliche Begegnung. Ich wünsche ich mir, dass zukünftige Ausbildungen diesen Kern der Psychotherapie bewahren und stärken: die echte, menschliche Begegnung – gerade in ihrer Begrenztheit.

Zur Person

Prof. Antje Gumz ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie ausgebildete Psychoanalytikerin und systemische Therapeutin. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich seit mehreren Jahrzehnten mit der Frage, was psychotherapeutische Kompetenzen ausmacht und wie sie gefördert werden können. Für ihre Forschungen hat sie 2023 den Heigl-Preis, den höchstdotierten Preis in der psychosomatischen Medizin erhalten. An der PHB leitet sie Ausbildungsstudiengang in Tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie.

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